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22.1.23

Rituale erklärt - was dahinter steckt

Beim Wort «Ritual» können einem die unterschiedlichsten Dinge durch den Kopf gehen. Sie sind eines der ältesten Kulturgüter der Menschheit, begleiten uns seit jeher im Alltag und haben teils extrem spektakuläre und aufwendige Ausführungen. Aber woran liegt es, dass wir bis heute noch so sehr an unseren Ritualen festhalten? Was sind Rituale und welchen Mehrwert haben sie für uns?


Eigenschaften von Ritualen


Der Begriff Ritual wurde bis heute nicht klar definiert. Laut Duden handelt es sich um ein „wiederholtes, immer gleichbleibendes, regelmäßiges Vorgehen nach einer festgelegten Ordnung“.

Ob eine gewisse Handlung als Ritual benannt werden kann, hängt jedoch vom Kontext und von der Wahrnehmung der Teilnehmenden ab.


Wenn eine Verhaltensweise zu bestimmten Anlässen, mehr oder weniger regelmässig stattfindet, eine ähnliche Handlung hat und eine tiefere Bedeutung aufweist, kann man sie Ritual bezeichnen. (Schindler, 2004)


Oft folgen Rituale einem festen Ablaufmuster und aufeinander aufbauenden Verhaltenssequenzen, wobei sie sich in ihrer Frequenz stark unterscheiden können. Von der täglichen Morgenroutine, über den jährlichen Jahreswechsel bis hin zum einmaligen Erwachsenwerden, können Rituale eine mehr oder weniger prägende Erfahrung sein. So werden sie auch unterschiedlich bewusst wahrgenommen: auf manche bereitet man sich Wochen, Monate lang vor, wie beispielsweise bei einer Geburt, andere jedoch entstehen spontan und organisch, zum Beispiel die Gutenachtgeschichte für die Kinder.


Was sie aber alle gemeinsam haben; Riten sind wiederkehrende Ereignisse, welche einen entscheidenden Teil unseres Lebens ausmachen, weil sie dieses sinnvoll strukturieren und in logisch nachvollziehbare Abschnitte gliedern. Weil sie wiederkehrend und auf gleiche Weise gefeiert werden, geben sie und Stabilität und Sicherheit. Sie können in Partnerschaften, Familien und Gemeinschaft zu mehr Beständigkeit, Verlässlichkeit, Kontinuität und Zusammenhalt verhelfen.


Da die Rituale oftmals mit Positivem verbunden werden (Kindheitserinnerungen, festliche Atmosphäre, Familientreffen…), verstärkt sich dieser Effekt noch weiter und es bildet sich eine gemeinsame Identität. Diese geteilte Identität und Wirklichkeit, in der Psychologie «shared cognition» genannt, führt dazu, dass sich Menschen vertraut fühlen, wenn es um die entsprechenden Themen geht, was wiederum die Sozialisation erleichtert.


Ein roter Faden durch das Leben


Rituale gibt es in jedem Lebensbereich, jeder Kultur und jeder Zeit. Älter als die Geschichtsschreibung selbst, bilden Rituale seit jeher eine wichtige Grundstruktur unser aller Leben. Von Generation zu Generation weitergegeben leben die Rituale weiter, entwickeln sich und bilden Brücken zwischen Jung und Alt.


Auf diese Weise spiegeln Rituale die Realität wider. Sie behandeln Themen, die den Menschen immer wieder begegnen; Initiationsriten, Geburt und Tod, Schenken und Schuldbefreiung usw. Egal ob man das Ritual selbst schon praktiziert hat oder nicht, man kann sich darin wiederfinden, es erscheint logisch und nachvollziehbar.


Rituale können eine Antwort auf eine der ältesten aller Menschheitsfragen geben: Wer bin ich? Indem wir gemeinsam, immer wieder, etwas tun, stellen wir eine Gemeinschaft her. Im Ritual wird sich das Individuum bewusst, Teil von etwas zu sein.


Auf dem Weg zu einem besseren und erfüllteren Selbst


Die Teilnahme an einem Ritual kann Orientierung fürs Leben geben, wie auch Flucht vor dem Alltag, Möglichkeit zur Suche nach privater und sozialer Identität, nach Lebensweisheiten und nach Orientierung für das Gemeinschaftsleben.


Sie begleiten uns durchs Leben, zeigen uns, dass alles seinen Lauf hat und schenken uns Mut, Hoffnung, Lebensfreude oder Trost. Somit tragen Rituale einen wichtigen Teil zur Persönlichkeitsentwicklung bei. Sie helfen uns, grundlegende Urbedürfnisse wie Sicherheit, Orientierung, Geborgenheit, Zugehörigkeit und soziale Identität zu erfüllen.


Als spezieller Moment des Innehaltens und der Abweichung vom Alltag geben sie uns auch die Möglichkeit, unser Leben zu hinterfragen und nach unseren Wünschen zu gestalten. Oftmals machen wir bei Ritualen gute Vorsätze, sind lieb zueinander, geniessen das Leben und drücken Dankbarkeit und Zuneigung aus.


Das immer wiederkehrende Ritual hilft uns als Gedankenstütze, diese guten Ansätze auch im täglichen Leben umzusetzen und helfen uns zu hinterfragen, ob wir mit unserem jetzigen Ich zufrieden sind, beziehungsweise in welche Richtung wir uns weiterentwickeln wollen.


Auch vermeintlich abergläubische Elemente wie Glücksbringer, gute Wünsche und Ähnliches haben durchaus eine wissenschaftlich belegte Wirkung:


Je mehr jemand daran glaubt, dass ihm Glück widerfahren wird, desto hoffnungsvoller, zuversichtlicher und optimistischer geht diese Person durch ihr Leben. Sie wird mehr Positives sehen und erleben, erhöht ihre Selbstwirksamkeit und somit die eigenen Leistungen. Der Wille, Gutes zu erreichen, ist viel stärker als man meinen würde: Die Kraft der eigenen Gedanken kann messbare Ergebnisse bewirken, weil sie zu anderem Verhalten führt. Das macht einen «Aberglauben» zur selbsterfüllenden Prophezeiung.


Auf diese Weise können wir selbst Verantwortung für unser Wohlbefinden übernehmen und mittels Ritualen einen regelmässigen Beitrag zur Erhaltung unserer seelischen und körperlichen Gesundheit leisten.


Rituale können uns auch bei Übergängen helfen. Feierlichkeiten mit symbolischen Handlungen wie durch ein Tor zu gehen, unterstützen die Wahrnehmung der Veränderung in unserem Unterbewusstsein und im Umfeld, während sie Halt in einer ungewissen Zeit der Veränderung geben.


Dabei ist es weniger von Bedeutung, wie genau dieses Ritual abgehalten wird, sondern viel mehr die Absicht, die dahintersteckt und die Hingabe, die Überzeugung, die reingesteckt wird.


Aus wissenschaftlicher Sicht vermögen Rituale also unsere tiefsten psychologischen Bedürfnisse zu erfüllen und geben uns Unterstützung und Anlass zur Selbsthilfe auf körperlicher und seelischer Ebene.


Ankerpunkte im natürlichen Jahreszyklus


Viele Bräuche und Zeremonien, die wir heute feiern, stützen sich ursprünglich auf astronomischen Ereignissen (Weihnachten, Ostern, Mittsommer, Erntedankfest…). Das liegt daran, dass wir jahrtausendelang den Naturgewalten komplett ausgesetzt waren und unser Leben somit gänzlich von ihnen abhängte. Der Frühling war die Zeit des Arbeitens, Vorbereiten und Planen, der Sommer war geprägt von Fülle, Wohlstand und Lebensfreude und im Herbst wurde geerntet und gearbeitet, um sich auf den Winter vorzubereiten. Der Winter war für viele besonders hart, man kämpfte täglich darum, nicht zu verhungern oder zu erfrieren, so entstanden viele Bräuche, in denen man für Licht und Leben betete, denn schon seit jeher wissen wir, wie viel uns die Sonne täglich schenkt.


Diese Gliederung des Jahres und dadurch Strukturierung unseres Lebens ist heute immer noch sinnvoll, auch wenn wir den Naturgewalten nur noch sehr gering ausgesetzt sind. Der natürliche Jahreszyklus mit Geburt, Wachstum, Fülle, Tod und Wiedergeburt kann uns auch im modernen Lebensstil begleiten, um Rhythmisierung in unseren Alltag und unsere Projekte zu bringen. Immer nur hart zu arbeiten ist genauso ungesund wie sich immer nur auszuruhen. Dem natürlichen Zyklus zu folgen, hilft uns, auch innerlich die geeignete Balance zu finden, welche sich seit tausenden von Jahren eingependelt hat.


Um diese Struktur zu erschaffen und beizubehalten helfen uns die regelmässig wiederkehrenden Rituale als Ankerpunkte, als Anfangs- und Schlussmomente wie auch zum bewussteren Wahrnehmen von Veränderungen und zur Rhythmisierung des Lebens.


Unterstützung der kindlichen Entwicklung


Besonders in der Kindheit sind Rituale weit verbreitet. Sie erfüllen ihr Bedürfnis nach Zugehörigkeit, geben Sicherheit und Struktur, unterstützen sie beim Hineinwachsen in die Gesellschaft und erleichtern den Prozess der Sozialisation. Somit sind Rituale für Kinder ein treuer Begleiter und bilden eine wichtige Basis für Entwicklung und Wachstum.


Rituale als Lebenshilfe


Da die meisten heute praktizierten Rituale über tausend Jahre alte Ursprünge haben, liegt jedem Brauch die Weisheit vieler Jahrhunderte zugrunde, welche wir nutzen können, um Episoden im eigenen Leben zu interpretieren und Erkenntnisse zu gewinnen, wie wir unser Leben gestalten, strukturieren, organisieren, verändern und neu definieren können und möchten. Rituale bieten eine gute Gelegenheit zur Selbstreflektion und damit zu sinnvollem Handeln. Hoffentlich regen Rituale auch dazu an, darüber nachzudenken, was jeder Einzelne tun kann, um ein lebenswertes, sinnvolles und glückliches Leben zu führen. (Frey, 2017)



Literaturquellen:


Martenstein, Harald: Der Sinn des Immergleichen: Warum Rituale so wichtig sind. In: Geo.de [https://www.geo.de/wissen/22345-rtkl-familienleben-der-sinn-des-immergleichen-warum-rituale-so-wichtig-sind; 5.1.2023]

Faulstich, Sophie & Schrode, Paula. (2018): Ritual – ein schillernder Begriff und wissenschaftliche Perspektiven. In: Brühlmann, Jürg & Conversano, Deborah (Hrsg). Rituale an Schulen. Wirksam und unterschätzt (S. 39-51)

Dieter Frey et al. (2017): Psychologie der Rituale und Bräuche. München: Springer.

Schindler, M. (2004). Heute schon geküsst? So bleibt Ihre Partnerschaft lebendig und stabil. Freiburg: Velber

Storl, Wolf-Dieter (2004): Naturrituale – Mit schamanischen Ritualen zu den eigenen Wurzeln finden. AT Verlag

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